Vielleicht habt ihr das Foto von dem kleinen syrischen Jungen aus Aleppo im Netz gesehen, der starr vor Schock und von Staub bedeckt im Krankenwagen sitzt? Ich will es hier nicht zeigen, da mich der Anblick wirklich gegruselt und das Kopfkino auf Horrorfilm umgeschaltet hat.

Ich glaube, jeden, der das Foto gesehen hat, hat es in irgendeiner Art und Weise berührt. Manch einer wollte es vielleicht nicht sehen, weil das Grauen einfach zu krass ist. Manch einer ärgert sich vielleicht über solche Fotos, über die Pietätlosigkeit und die Missachtung der Bildrechte. Manch einer von euch wollte diesen kleinen Jungen vielleicht einfach in den Arm nehmen, ihn trösten, ihm Geborgenheit und Sicherheit geben. Und manch einer hatte Tränen in den Augen, weil da ein kleiner unschuldiger Mensch etwas furchtbar Grausames erleben musste.

*** Vorsicht – Triggerwarnung ***

Wir sind hier im sicheren Deutschland und können nur erahnen, wie furchtbar der Krieg im Allgemeinen und speziell in Aleppo sein muss. Wie man jeden Tag um`s Überleben kämpft – mit der Hoffnung auf genug Nahrung, sauberes Wasser, Strom. Im Hintergrund Bombeneinschläge, Kanonenhagel. Und dann diese Ungewissheit, was die Zukunft, ja vielleicht schon der nächste Tag bringen mag. Vielleicht Obdachlosigkeit, vielleicht den Tod. Wer weiß? Wann hat das alles ein Ende?

Nun stellt euch vor, ihr sitz hier auf eurer Couch vor eurem Fernseher und seht dieses Bild des  kleinen traumatisierten Jungen. Und ihr wisst: Das könnte euer Kind sein. Vielleicht morgen, in einem Monat oder in diesem Augenblick. Denn eure Familie ist dort, in der meistumkämpften Stadt der Welt.

Anfang dieses Jahres haben wir einem syrischen Flüchtling geholfen, hier eine Wohnung zu beziehen. Als Christ wurde er von seinen Mitbewohnern in der Flüchtlingsunterkunft ziemlich gemobbt. Ein Zimmer, Wohnküche, Bad – wir handelten schnell und nahmen einen Teil der Kosten auf unsere Kappe. Auch einen Laptop und Internet galt es zu organisieren – die einzige Möglichkeit, mit seiner Frau sowie den zwei kleinen Söhnen zu kommunizieren. Sie blieben zurück – in einem Vorort Aleppos. Während er um seine Anerkennung als Asylant kämpft und auf den Familiennachzug hofft.

Wisst ihr, ihr denkt jetzt bestimmt: „Warum ging er denn auch alleine fort? Wie egoistisch!“ Das dachte ich zuerst auch. Aber in Gesprächen erfuhren wir, dass es sehr sehr viel Geld kostet, von Aleppo bis nach Deutschland zu gelangen. Im Fall seines Cousins und seiner vierköpfigen Familie waren das das mehrere Autos, ein Haus und das Vermögen eines kleinen Unternehmens. Tja – und wer das nicht hat, kann es sich eben nicht leisten, alle mitzunehmen. Zumal der Weg keineswegs einer gut organisierten Tourireise gleicht. Ganz im Gegenteil ist er von Entbehrungen gezeichnet und gefährlich.

Wie schwer muss es sein, solch eine Entscheidung zu treffen? Das geht nur, wenn man Hoffnung hat. Und dann ist man hier – in Sicherheit – und scheitert an den Mauern der Bürokratie für den Familiennachzug.

Letzte Woche gab es grünes Licht, oder sagen wir „gelbes Licht“. Subsidiärer Schutz – zunächst befristet für ein Jahr. Damit ist der Familiennachzug quasi völlig aussichtslos. Denn erst ab drei Jahren vollem Asyl ist ein Nachzug überhaupt erst möglich.

Und ich frage mich: Warum erfolgt diese Anerkennung in diesem Fall nicht? Als christlicher Syrer mit armenischer Abstammung ist es quasi ausgeschlossen, jemals wieder zurück zu kehren. Noch dazu, in eine zu 90% zerstörte Stadt, die einst Vorzeigeschild des Orients war. Es ist zum Kotzen. Ich verstehe das System nicht. Ich verstehe diese Welt nicht. Familien gehören zusammen. Und in diesem Fall trennt sie die Hölle.

Ich will hier keine Grundsatzdiskussion – böser Flüchtling, guter Flüchtling – anzetteln. Statistisch gesehen gibt es unter allen Menschen einen gewissen Prozentsatz an Gebildeten, Durchschnittlichen, Faulen, Fleißigen, solchen die sich integrieren wollen, solchen die das ablehnen. Und ja, es gibt auch Arschlöcher und vielleicht den ein oder anderen Radikalen. Und ja, auch ich sehe uns da vor einer riesigen Aufgabe und sehr viel Arbeit in den nächsten Jahren stehen.

Aber hier, in diesem Fall geht es um ein Einzelschicksal. Eines von vielen. Und das zeigt, dass hinter jedem Flüchtenden eine Geschichte steckt. Es sind alles Menschen wie du und ich. Väter, Mütter, Geschwister, Kinder. Und alle haben etwas zurück gelassen – vielleicht sogar eine ganze Familie.

Familien gehören zusammen! Das sollte nicht an schnell beschlossenen Entscheidungen scheitern. Das fördert die Integration. Wie soll man sich mit diesem ungewissen Status hier etwas aufbauen? Warum werden Einsprüche nicht erhört und alles hinausgezögert? Zum Teil über Jahre. Diese Hilflosigkeit – auch für Außenstehende – ist unerträglich.

Wir haben hier wirklich sehr viele ehrenamtliche Helfer, die bereit wären, Geld und Bürgschaften für Familiennachzüge bereitzustellen. Um wie in diesem Fall eine Frau und Kinder aus der Kriegshölle Aleppo hierher nach Deutschland zu holen. Zu einem Vater, der nun hier ist und nichts tun kann. Der sich nun die Bilder eines kleinen traumatisierten Jungen in den Medien ansehen muss, dessen Augen leer sind. Mit der Angst, seine eigene Familie niemals wieder zu sehen. Oder in einem Jahr zurück nach Syrien kehren zu müssen zu einem Leben in Scherben.

Aber die Behörden, die machen dicht. Es würde mich nicht wundern, wenn gerade diese Perspektivlosigkeit vieles an Integrationsarbeit für immer zerstört.

Was würdet ihr tun, wenn ihr in dieser Situation wärt?